Wir verlassen Russland und werden morgen nach Kirkenes/Norwegen reisen

Oh weh, mit Zahnschmerzen lässt es sich so schlecht denken. Aber heute ist der letzte Abend in Russland und ich möchte dieses Kapitel gern abschließen, zumal ich noch viel Speicherplatz auf meiner Simcard habe und ohne Probleme die Fotos anhängen und senden kann.

Ich versprach im letzten Blogbeitrag von den Solowezki-Inseln zu erzählen, die wir von Rabocheostrovsk nach einer 2-stündigen Bootstour besucht haben. Genaugenommen ist es nur eine Insel, die wir per Fahrrad erkundeten, es ist die mit der bedeutendsten Geschichte: 1426 (!) erreichten zwei Mönche auf der Suche nach einem abgelegenen Ort der Stille diese Inselgruppe und gründeten ein Kloster. In den folgenden Jahrhunderten gewann das Kloster immer mehr an Bedeutung bis es zu einem der wichtigsten Zentren des russisch-orthodoxen Glaubens im Norden des Landes wurde. Nach der Oktoberrevolution und dem anschließenden Bürgerkrieg  wurde es Anfang der 20-iger Jahre in das landesweit erste Arbeitslager umfunktioniert und wurde so zum Prototyp der Gulags. Zwischen 20 000 und 70 000 Häftlinge gleichzeitig, die Angaben schwanken, waren auf dem Archipel interniert. 30 000 bis 40 000 Häftlinge sollen bis zur Auflösung des Lagers 1939 durch Erschießungen, Folter und Epidemien ihr Leben auf Solowezki gelassen haben – darunter nicht wenige Spitzen der vorrevolutionären Gesellschaft, Dichter, Denker, Revolutionäre, die sich auf den Inseln Seite an Seite mit gewöhnlichen Kriminellen wiederfanden. Eine Untersuchungskommission aus Moskau stellt Ende der Zwanziger fest, dass auf Solowezki nackte und gefesselte Gefangene bei klirrender Winterkälte in Glockentürmen stünden, dass verdorbenes Essen und sadistische Befehle ausgegeben würden: Häftlinge müssten auf das Kommando „Delfin“ hin in eiskaltes Wasser springen, oder sich nackt Mückenschwärmen aussetzen. „Lasst uns mit eiserner Hand die Menschheit ihrem Glück entgegentreiben“, stand damals über dem Haupt-Eingangstor des alten Klosters geschrieben. Und auf einem anderen Tor war zu lesen: „Freiheit durch Arbeit“. In Auschwitz wurde daraus später „Arbeit macht frei“ (Zitat aus einem Spiegelbericht). Von 1939 bis 1947 diente das Kloster von Solowezki als Truppenübungspunkt der sowjetischen Nordflotte. Von 1942 bis 1945 – befand sich hier eine Marineschule, in der in aller Eile Kadetten für die Seefronten des „Großen Vaterländischen Krieges“ ausgebildet wurden. Damit wurde das Archipel zum Sperrgebiet, die Spuren des Lagers wurden nur notdürftig beseitigt. Heute ist das Solowezki-Kloster ein historisches und architektonisches Museum. Es war eine der ersten russischen Stätten, die in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen wurden. Seit 1991 ist im Kloster wieder eine kleine Mönchbruderschaft heimisch (Zitat Wikipedia).

Wir hatten von den Labyrinthen gehört, die sich ebenfalls auf den Inseln befinden sollen und davon, dass die Entfernungen zu Fuß trotz der 10 Stunden Aufenthalt auf der Insel nicht zu bewältigen sind. Deswegen mieteten wir uns sofort nach der Ankunft 2 Räder (naja, Gestelle mit 2 Reifen und einem Sattel. Keine Schutzbleche, keine Lichtanlagen, keine Klingeln und schon gar keine Gangschaltungen – schmerzlich vermisst), mit denen wir stolze 12-15km hügelauf und hügelab strampelten. Mittagspause in dem einzigen Inselrestaurant: Heilbutt mit heimischen Pilzen und Käse überbacken (was man alles überbacken kann…) und Pfannkuchen mit Preiselbeeren. Später, als wir beim besten Willen nicht mehr auf den Sätteln sitzen konnten, besichtigten wir das oben beschriebene Kloster, bzw. den Teil davon, der gerade nicht renoviert wird und freigegeben ist. Mit der gleichen, völlig überladenen Fähre aus alten Sowjettagen kamen wir um 22.00 Uhr wieder in unserem “Heimathafen” an.

Nun verließen wir Kem und seine Umgebung und damit auch das Weiße Meer um in Richtung Murmansk und Kola-Halbinsel zu fahren. Unterwegs tankten wir aus einer angezapften Quelle frisches Wasser, wie es alle anderen Vorbeifahrenden auch tun. Ein Straßenschild mit einem abgebildeten Wasserhahn macht auf dieses natürliche Quelle aufmerksam und wir müssen sagen, es schmeckt vorzüglich.

Auf der Kola-Halbinsel mit ihren wilden Bächen, in denen Lachse im Juli springen, den Wäldern voller Beeren aber auch den Erzen und verwüsteten Gegenden mit Abraumhalden, besuchten wir die Stadt Lovosero. Hier in den umliegenden Bergen soll es einen sehr seltenen Stein, den Tugtupid geben, ein Kristall, der seine Farben bei Tageslicht ändern oder verstärken kann. Ich habe einen einheimischen Mann befragt, der aber noch nie etwas davon gehört hat (haben will?), so dass ich unverrichteter Dinge wieder von dannen ziehen musste. In diesem Gebiet leben ca. 3000  Samen, neben anderen Minderheiten, denen es hier in Russland nicht so gut ergeht wie ihren Brüdern in Finnland und Norwegen. Ihnen wurden große Teile der Tundra, der Wälder und der Fischereirechte von reichen Leuten aus Moskau abgekauft, bis ihnen nur der Alkohol übrigblieb. Ein trauriges Bild! Im 2. Weltkrieg wurden Samen und andere indigene Völker verfolgt, verschleppt, in Arbeitslager gesteckt und ermordet. Bis heute haben sie kein Recht darauf, ihr Leben mit Jagen, Sammeln und Fischen zu führen, anders als die Samen in den Nachbarländern.

Dann erreichten wir Murmansk. Wir wurden  nicht sehr freundlich empfangen: just in dem Augenblick als wir den 35m hohen Soldaten (Verteidiger der sowjetischen Arktis während des Großen Vaterländischen Krieges und liebevoll Alyosha genannt) auf einem der Hügel der Stadt fotografieren wollten blitzte und donnerte es und es begann in Strömen zu gießen. Und ganz vergeblich haben wir Stunden damit zugebracht, den atombetriebenen Eisbrecher “Lenin” im Hafenbecken zu finden. Er war für nicht auffindbar…

Unterwegs vermissten wir Rentiere, Elche, Bären oder Seeadler (Fisch-?). Das einzige was überhaupt, wenn auch sehr selten, zu sehen war, waren einige Krähen. Früh morgens wachten wir ohne Vogelgezwitscher auf, was nach einigem Nachdenken auch verständlich wurde:  in der Tundra gibt es keine Samenstände und sicher auch keine Regenwürmer. Dafür einen sehr langen Winter ohne Licht. Welcher Vogel sollte das freiwillig wollen?

Ca. 100 km vor der norwegischen Grenze wurden wir von 2 Soldaten gestoppt. Der Ranghöhere (ohne Englischkenntnisse) verschwand für eine Ewigkeit in sein Kabäuschen und malte unsere Dokumente ab, während der Rangniedere ganz ordentliches Englisch sprach und sich ausführlich für unsere Weltkarte und Reiseroute interessierte. Nachdem wir fahren durften wurde uns auch klar, warum diese Personenkontrolle stattfand: beinahe das ganze Gebiet bis zur Grenze ist Truppenübungsplatz und die Straße beidseitig mit Kasernen bebaut.

Jetzt stehen wir in Nickel, der Name steht für das, was abgebaut wird. Eine trostlose Stadt ganz im Norden der Republik. Hier werden wir auf einem Schotterplatz übernachten und morgen früh zur Grenze nach Norwegen fahren. Unsere restlichen Rubel haben wir in Diesel umgesetzt, das Tanken war in Russland eine Freude: ca. 0,50€/ Liter! In Norwegen und den anderen skandinavischen Ländern erwarten uns dann ganz andere Preise…

Hier also die letzten Bilder aus Russland! Später folgen Fotos aus Skandinavien.

Solowezki Kloster auf gleichnamiger Insel, erste Besiedelung durch Mönche im 13. Jh.unsere Radtour auf der Solowezki InselHäuschen mit hübsch angelegtem Garten und ErdkellerSolowezki Kloster auf gleichnamiger Insel, erste Besiedelung durch Mönche im 13. Jh.Weißmeerküste mit hungriger MöweLabyrinth auf der Insel SolowezkiWeißmeerküste, Insel Solowezki, 2 ganz MutigePicknick am See auf der Insel SolowezkiVorlage für die Erdhäuser aus "Herrn der Ringe"Insel Solowezki mit Eingang zum KlosterHafeneinfahrt Insel SolowezkiTeile des Klosters sind schon sehr ansprechend renoviertBlick auf Kemeine ewig sprudelnde Quelle an der Hauptstraßeerst mal nachsehen, wieviel Geld im Portmonee ist, dann Arbeitshandschuhe kaufen.  Markt in Lowosero/KolaKein Wunder, dass diese Weine hier begehrt sind bei den Etiketteneinzige Tankstelle weit und breit, Lowoseroeiner der unzähligen Flüsse auf der Halbinsel KolaKaffeepause mit WeitblickMurmanskSoldatenstatue, Verteidiger der sowjetischen Arktis während des Großen Vaterländischen Krieges, von den Russen liebevoll Alyosha genannt. 35,5m hoch + 7m SockelMurmanskKohleverladung in Murmanskauf dem Weg zur norw. Grenze passieren wir zahlreiche militärische Gedenkstättenalte, zerschossene Stahlhelme als stumme Zeugen schrecklicher Geschehnisse1941-44, auf dem Weg zur norw. Grenze passieren wir zahlreiche militärische Gedenkstättenauf dem Weg zur norw. Grenze passieren wir zahlreiche militärische GedenkstättenHochland bei Nickel, RUNickel, eine russische Stadt am Rande des RiesenreichesIn Nickel ist alles trostloseine der in Russland typischen Garagenvorstädte (sind nicht immer so hübsch bunt)

8 Gedanken zu „Wir verlassen Russland und werden morgen nach Kirkenes/Norwegen reisen

  1. Hallo Ihr lieben,
    endlich wird es bei euch ja Zander oder Lachs gegeben haben, denn bei so viel Wasser könnt Ihr ja nicht ohne Angeln weiter fahren.
    Wir wünschen euch weiter eine tolle Tour und warten ungeduldig auf den nächsten Bericht.
    Brigitte ist auf den Weg nach Island und lässt ganz lieb grüßen.
    Bei Zahnschmerzen hilf Wodka und Nelken.
    Bleibt gesund und munter
    Die Waller

    • Bist du doch nicht mitgefahren? Danke für den Tipp gegen Zahnschmerzen, werde ihn befolgen. In welcher Dosis sollen die Wirkstoffe eingenommen werden? ??
      Lieben Gruß!

      • Halo,
        die Dosis ist bei beiden:
        „nicht bis zum Verlust der Muttersprache“
        trotzdem gute Besserung.
        Brigittes Schwester ist mitgefahren.
        Lieben Gruß
        ich

  2. Schön, wieder von Euch zu lesen – wie immer sehr informativ, spannend und toll bebildert. Danke fürs Teilhabenlassen! Gute Fahrt weiterhin…
    Miss U!

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